Kooperative Brettspiele sind nicht jedermanns Fall – irgendwie gibt es ja doch immer einen Alphaspielenden, der fast alles übernimmt und ein Teil der Gruppe klinkt sich geistig aus…. Wie man da gegensteuern kann?
Teilt die Informationen einfach in vier gleiche Teile und lasst sie nicht allen zukommen. Auf diese Weise müsst ihr einfach miteinander reden und aktiv dabei sein. Ganz hervorragend gelingt dies bei Lost Places, dem ersten Fall aus der neuen Point of View-Reihe. Diesen konnte ich jetzt in einer tollen Runde durchspielen und berichte Euch im Folgenden gerne davon.
Carina
Point of View ist ein kooperatives Kommunikationsspiel, indem wir gemeinsam eine Geschichte erleben. Das Besondere dabei: Jeder sieht die Situation aus einem anderen Blickwinkel, den die anderen nicht kennen.
Optimalerweise spielt man Point of View zu viert. In dem Fall erhalten alle Mitspielenden einen eigenen Sichtschirm mit einer Himmelsrichtung, den sie vor sich aufstellen. Im Spiel zu zweit erhält jeder einen eigenen Sichtschirm von gegenüberliegenden Himmelsrichtungen und legt die anderen beiden offen aus. Zu dritt wird nur eine Himmelsrichtung offen ausgelegt.
Das Spiel ist in vier Kapitel unterteilt, die man nacheinander spielt. Diese können wahlweise selber gelesen oder über den QR-Code auf der Rückseite mit der Point of View-App gescannt und dann vorgelesen werden. Die Mitspielenden sind Teil einer Geschichte, die auf einer Insel spielt. Hier gilt es Aufgaben zu erfüllen, Fragen zu beantworten und Rätsel zu lösen. Manchmal erhalten Mitspielende zusätzlich noch Karten mit Sonderinformationen.
Ein Kapitel endet nach 40 Karten. Das Wertungssystem besteht darin, dass man richtig und falsch beantwortete Fragen separat sammelt und bei Kapitelende gemäß der Wertungsliste in der Spielregel auswertet. Dann werden die Sichtschirme und Karten an die nächste Person weitergegeben und das nächste Kapitel gespielt. Die gesamte Geschichte endet nach 4 Kapiteln.
Brettspiel Regeln
Spielregeln (ext. Link zu Point of View)
Ich muss gar nicht lange drumrum reden: Point of View hat unsere Gruppe geflasht. Vermutlich hatte ich Glück mit einer sehr motivierten und begeisterungsfähigen Gruppe diese Geschichte erleben zu dürfen. Und das empfehle ich Euch auch allen, denn das ist ein Schlüssel zum Spielspaß: Wartet, bis Ihr die richtige Gruppe aus vier Menschen zusammenhabt, die wirklich Lust auf ein solches Spiel hat und auch das Commitment eingeht, dieses im Gesamten erleben zu wollen. Und das am besten noch mit wenig zeitlichem Verzug zwischen den Kapiteln. Das sind die optimalen Grundvoraussetzungen für optimalen Spielspaß. So habe ich die vier Kapitel erleben dürfen und unter diesem Eindruck schreibe ich hier meine Erfahrungen. Alle der oben genannten Komponenten, die nicht so gut passen, schmälern die Freude an Point of View vermutlich etwas.
Warum hat uns Point of View geflasht?
Das Spiel wurde mit großer Liebe zum Detail entwickelt. Hier wurde eine Spielwelt geschaffen, die in jedem der vier Blickwinkel Neues zu bieten hat. Im ersten Kapitel kennt man nur eine Perspektive und die Orientierung fällt noch schwer. Wichtig: Wenn man nur glaubt, was man selber sieht, ist man bei Point of View nicht gut aufgehoben! Man hört die anderen von so vielem sprechen, was einem selber verborgen bleibt, das ist schon verrückt. Es entstehen viele Bilder im Kopf: An den Rändern meines Sichtschirms geht die Welt durch die Schilderungen von anderen auf einmal weiter, ich kann hinter Gebäude schauen und weiß auf einmal auch, was in meine Rücken passiert.
Man braucht daher schon einiges an Vorstellungskraft und es ist auch nicht wenig anstrengend, sich die Position und die Beschreibung von Orten, Gegenständen und Gebäuden zu merken, die man nicht sehen kann. Das Geschehen wird zudem komplexer und immer mehr Informationen kommen durch das Erzählen der Geschichte hinzu.
Schau genau – und berichte darüber
Schnell lernen die Mitspielenden – manchmal auch durch Fehler auf die harte Tour – wie wichtig präzise Beschreibungen sind. „Ach, dass da Schleifspuren sind, hattest Du aber nicht erwähnt!“ Ups, da muss ich künftig wohl genauer hinschauen und besser kommunizieren! Wir sind schließlich sprachlich dafür zuständig, Bilder für die anderen Mitspielenden zu erzeugen, sie zu leiten und zu lenken und so die uns gestellten Fragen richtig zu beantworten. Kombination von Informationen, das Einbeziehen sämtlicher Spielmaterialien und der Austausch darüber stehen im Fokus.
Neue Sichtweisen
Ein ganz besonderes Erlebnis ist es dann, wenn am Ende der Kapitel die Sichtschirme weitergegeben werden und man eine völlig neue Sicht auf die Dinge erhält, wenn man die bisherige Vorstellung nun durch ein „echtes Bild“ ersetzen kann. Da ist Gesprächsbedarf am Tisch! Aber hallo!: „Ach soooo sieht das aus!“, „Ach DAS hast Du gemeint!“, „Jetzt verstehe ich endlich auch, wovon Ihr die ganze Zeit redet!“, „Wieso hast Du denn bisher noch nie von den Blutspuren gesprochen?“. Da gehen ganze Kronleuchter an Lichtern auf. Man versteht sich auf einmal viel besser, ist erstaunt über alles das, was man nun zu Gesicht bekommt, wie es aus einer anderen Perspektive aussieht und welchen Erkenntnisgewinn das nun bringt.
Es ändern sich während des Spiels nicht nur die Perspektiven durch den anderen Blickwinkel, sondern auch durch unterschiedlich hohe Aussichtspunkte, die auch mal näher dran, mal weiter weg vom Geschehen sind. Ohne zu viel zu spoilern, wird auch die Vogelperspektive im Laufe des Spiels relevant und Ihr werdet auch einen Blick unter die Erde riskieren müssen.
Licht! Ich brauche Licht!
Spielt man Point of View am Abend, wird der Erkenntnisgewinn garantiert auch deutlich erhöht, wenn ihr Taschenlampen verwendet. Die haben wir immer genutzt. Wir haben davon abgesehen, Stirnlampen zu verwenden, aber das wäre sicher keine schlechte Maßnahme. Spielt man drei Kapitel hintereinander, spürt man das am Folgetag auch im Nacken, da man ständig in den Spielplan hineinkriechen möchte. Ggf. sorgt Ihr vor Spielbeginn dafür, die Faltpläne durch eine Erhöhung auf Augenhöhe zu bringen. So könnt Ihr Nackenschmerzen ggf. vermeiden. Und vergesst auf keinen Fall die Lesebrille!
Miteinander, alles andere bringt nichts
Point of View ist ein kooperatives Spiel und in kooperativen Spielen machen die Spielenden Fehler. Es gibt Menschen, die die Fehler von anderen nicht gut aushalten können. Ich habe beispielsweise bei den Wegweiser-Aufgaben immer auf voller Linie versagt! Vermeidet aber unbedingt, Euch Vorwürfe zu machen. Das dient nicht dem Fortkommen, der Stimmung oder den Freundschaften. Und seid gewiss: Je lauter Ihr die anderen beschuldigt, etwas übersehen zu haben, desto größer wird der Fehler, den Ihr selber im Laufe des Spiels noch machen werdet. Davor ist niemand gefeit!
Nehmt Fehler mit Humor! Lacht darüber. Zieht Euch ruhig damit auf – der Trashtalk ist sowieso ein belebendes Element. Aber nehmt Euren Ehrgeiz zurück und genießt das gemeinsame Erlebnis, das man so schnell nicht vergisst.
Richtig oder falsch – egal
Während des Spiels haben wir das Wertungssystem nicht verwendet. Jede richtige Antwort wurde gemeinsam gefeiert, bei Fehlern handelte es sich häufig auch nur um Teilfehler. Ich finde, das kann man hier oft gar nicht trennscharf bewerten. Daher kann ich auch nur empfehlen, das Wertungssystem gar nicht so wichtig zu nehmen und einfach ohne Sortierung von richtigen und falschen Antworten zu spielen. Das tut dem Spielspaß keinen Abbruch.
Die App
Ein wenig gehakt hat das Scannen der QR-Codes mit der App. Hier musste man den Code häufig mal neu justieren, bevor er akzeptiert und gelesen wurde. Die Erzählstimme, ziemlich sicher KI-generiert, hatte mit einigen Worten Probleme. Einen „Priva-tier“ findet man demnach wohl auch eher im Zoo. Manche Satzbetonungen sind auch misslungen, aber das stört nicht weiter und führt eher zu einem Lacher. Die in allen Kapiteln gleiche Hintergrundmusik ist nach drei Kapiteln am Stück langsam nicht mehr gut zu ertragen, aber wirklich schlimm ist sie auch nicht.
Erlebnis mit Bildungsansatz
Die Geschichte selbst ist in Teilen etwas verrückt, die Personen seltsam bis skurril – alles auf der Insel etwas strange. Aber immer folgt alles noch einer Logik und bleibt dabei nachvollziehbar. Das Spiel ist laut Angabe ab 10 spielbar – ich denke, jünger sollten Kinder für das Erleben der Geschichte auch nicht sein. Dennoch ist Point of View für ältere Kinder sicher ein interessantes Erlebnis. Zudem dient es der Sprachförderung und schult Beobachtungsgabe sowie die Fähigkeit, über Worte Bilder und Situationen zu beschreiben.
Wir lagen eigentlich immer etwas über der angegeben Spieldauer, sind aber sicher, dass wir uns deutlich mehr ausgetauscht haben, als für die reine Beantwortung der Fragen notwendig gewesen wäre. Am Ende des vierten Kapitels haben wir uns eine gemeinsame Erinnerung geschaffen. Insider wie „Sicher wieder am Trafohäuschen, was?“, „Was für ein Leuchtturm?“ und „Was macht der da eigentlich in dem blauen Fass?“ werden uns wohl noch lange begleiten. Und wir freuen uns schon gemeinsam darauf, das zweite Abenteuer rund um das Spooky Festival zu erleben.
- Die vier Blickwinkel auf eine Szene mit aufgeteilten Informationen, die es in der Gruppe zu teilen gilt, sind ein toller neuer Ansatz
- Gelungene illustratorische Umsetzung der unterschiedlichen Perspektiven und Verbindung mit einer funktionierenden Geschichte
- Tolles Gruppenerlebnis, das gemeinsame Erinnerungen schafft
- Optimaler Spielgenuss nur mit kooperativ gewillter, gleich besetzter Vierer-Gruppe mit nicht allzu großem zeitlichen Abstand möglich
- Kleine Probleme beim Scannen der QR-Codes mit der App
- Menschen mit wenig Orientierungssinn oder räumlichem Vorstellungsvermögen könnten überfordert sein
Point of View hat unsere Spielrunde begeistert. Das Spiel schafft es, mit einem neuen Ansatz ein tolles, kooperatives Spielerlebnis zu zaubern, das uns ein gemeinsames Erlebnis schenkt. Wir erleben eine Geschichte auf einer Insel, die wir aus unterschiedlichen Perspektiven erleben und von der wir zunächst durch Erzählungen und später den Tausch der Sichtschirme immer mehr kennenlernen.
Bei Point of View ist es essentiell, durch die Schilderungen des Gesehenen und den Austausch mit den Mitspielenden neue Erkenntnisse zu gewinnen und so in der Geschichte voranzukommen. Wir müssen auf Aussagen vertrauen, Glauben schenken, uns geneseitig helfen, gemeinsam über Fehler lachen und ausgiebig richtige Antworten feiern.
Wer sich darauf in einer möglichst gleichbleibenden und am besten auch in einer Viererrunde einlassen möchte, wird die gemeinsam investierte Zeit nicht bereuen!
Übrigens: Wer die Geschichte einmal erlebt hat, kann die Schachtel problemlos weitergeben – kein Spielmaterial wird zerstört. Ein zweites Mal wird man sie vermutlich nicht durchspielen.